Abschied von Opa

Im Frühjahr 2016 fuhr ich mit Opa in seinem alten Renault Kangoo zu einem Orgelkonzert nach Kempen NRW. Von Oldenburg dauerte diese Strecke gut drei Stunden und somit war ich froh, dass Opa mir nach einer zehnjährigen Diskussion, also seit Erhalt meines Führerscheins, endlich das Steuer zutraute und sich widerstandlos auf den Beifahrersitz setzte. Allerdings wollte ich den alten Mann auch nicht unnötig aufregen, also fuhr ich Strich 120. Nach einer Stunde Fahrt sagte Opa schließlich schelmisch grinsend: „Also ich hab aus der Kiste ja mal 150 rausbekommen.“ Dann fragte er, ob es eine Möglichkeit gäbe, mal abzufahren – er wollte gern ein Eis essen.

Die nächste Abfahrmöglichkeit war ein McDonald’s, ich kaufe ihm ein McSunday mit Schokoladensauce und mir einen Kaffee. Zunächst inspizierte Opa das Eis ein wenig argwöhnisch – immerhin war er in seinem Leben erst einmal bei McDonald’s gewesen, wie er mir erzählte. Nach dem ersten Bissen teilte er mir dann mit, das Eis selbst wäre wohl nix, aber die Sauce, diese Schokoladensauce, die könnte wohl was. Zu diesem Zeitpunkt war Opa ein knappes Jahr verwitwet. Meine Oma hatte ein Leben lang für ihn gekocht, dick panierte Schnitzel und noch fettigere Rouladen. Zum Zeitpunkt ihres plötzlichen Todes am 17. Juni 2015 konnte Opa sich gerade mal Eier braten und unter Anleitung Nudeln kochen. Trotzdem: Zu McDonald’s gehen, das war für ihn nie in Frage gekommen. Dafür war er zu stolz.

Nach dem Tod meiner Oma Annemarie wurde mir erst deutlich, wie viele Parallelen es zwischen einem Junggesellen und einem Witwer dieser Generation eigentlich gibt. Als erste Handlung nach Omas Tod war Opa an den Kühlschrank gegangen und hatte jedes zweite Teil mit dem Satz „Das brauche ich jetzt nicht mehr“ rausgeräumt und mir mitgegeben. Zwei Äpfel? Unnötig. Zwei Joghurts? Sowieso. Dafür kaufte er jetzt Tiefkühlpizza und Dosenravioli, die er sich mit Wonne mit meinem jüngeren Bruder Lukas teilte, der ihn seit Omas Tod regelmäßig besuchte. Beim Bäcker bestellte er stets das Studentenfrühstück, bestehend aus einem belegten Brötchen und einer Tasse Filterkaffee, „aufgepeppt“ mit einem gekochten Ei, wie Opa das nannte. Als ich ihn im Winter besuchte, versuchte er ganz selbstverständlich mit seinem Sommer-Trenchcoat auf die Straße zu gehen – es hielt ihn ja niemand mehr davon ab. Dass mein Vater ihm für die Beerdigung seiner Frau einen neuen Anzug gekauft hatte, empfand er als ebenso unnötig – wer sollte den denn noch bewundern?

Tatsächlich gab es sie aber, die Frauen, die Opa bewunderten. Man macht sich das nicht so schnell klar, aber: Ein 86-Jähriger Witwer ist auf einem durchschnittlichen Friedhof ein ziemlicher Jackpot. Frauen werden älter als Männer, die meisten Trauernden pflegen somit die Gräber ihrer Männer. Opa, früher oft eher verschlossen und störrisch, kam mit diesen Frauen ins Gespräch. Mit der Frau, die für ihn die Blumen auf Omas Grab goss, wenn er mal einen Vormittag nicht erschienen war. Mit der, die so Probleme mit ihren Zähnen hatte und Geschichten oft mehrfach erzählte, weil zuhause so wenig gesprochen wurde. Opa war höflich zu ihnen, lud sie auf einen Kaffee zu sich ein. Aber seine Gedanken waren halt doch woanders.

Einmal, kurz nach Omas Tod, traf er beim Spaziergang ein junges Mädchen, die ihn irgendwie auffällig anschaute. Von da an fragte er sich: War das ein Zeichen von Annemarie? Denn, so seine feste Überzeugung: Nach 59 Jahren Ehe, da kann man nicht gehen und sich einfach nicht mehr melden. Da muss man doch irgendwie „Hallo“ sagen. Vor allem, wenn man sich nicht an die Abmachung gehalten hat. Die Abmachung, so sah Opa das, war, dass sie zusammen gehen. Und wenn das nicht möglich wäre, dann auf jeden Fall er zuerst. Zwei Herzinfarkte und eine Mehrfach-Bypass-Operation hatte er überstanden, irgendwann würde das Herz schlapp machen. Und Oma? Die saß zwar im Rollstuhl, war ansonsten aber fit. Als der Hirnschlag sie ihm nahm, fühlte er sich vor allem eins: betrogen.

Je länger Oma gegangen war, umso schlimmer wurde dieses Gefühl. Wo war denn nun ihr Zeichen? War es wirklich der Vogel im Baum? Oder der Regen bei ihrer Beerdigung? Sowas sagten zumindest andere, die ihn beruhigen wollten. Aber nach 59 Jahren Ehe und über 60 Jahren gemeinsam, da beruhigt einen das nicht. Da braucht man Beweise, dass es dem anderen gut geht, wo er ist. Die Begegnung mit dem jungen Mädchen gab Opa kurze Zeit Auftrieb. Aber es dauerte nicht sehr lange und er sagte: „Graviert meinen Namen doch schonmal unter Omas auf den Grabstein. Müsst ihr nur noch das Datum eintragen.“

Tatsächlich stellte ich mir oft die Frage, ob Opa einsam wäre. Wobei, nein, das ist falsch formuliert. Natürlich war er einsam. Weil egal wie viele Verwandte vorbeikommen, anrufen oder Mails schicken: Knapp 60 Jahre mit einer Frau vergisst man nicht. Kurz vor Omas Tod hatten sie in ihrer kleinen Wohnung getrennte Schlafzimmer eingerichtet. Weil Opa nachts gerne lange am Computer saß und las, Oma aber schon schlafen wollte, so die Begründung. Später sagte Opa: „Das war unser größter Fehler.“

Nach dem McDonald’s Besuch im Frühjahr stiegen wir wieder ins Auto und fuhren weiter nach Kempen. Wir redeten die ganze Zeit. Über Autos, die Kirche, die Familie, Streits, die wir miteinander gehabt hatten, als ich noch seine Klavierschülerin war. Irgendwann fragte ich Opa: „Und, was ist jetzt das Wichtigste im Leben?“. Opa sagte: „Lieben. Und einmal zu erleben, wie es sich anfühlt wirklich geliebt zu werden“

Mein Opa Gottfried ist am 15. August 2016, also gut ein Jahr nach dem Tod seiner Frau Annemarie, gestorben. Er wollte hier nicht mehr alleine sein. Wenige Tage später wäre er 87 Jahre alt geworden. Den Zug zu seiner Geburtstagsfeier hatte ich schon gebucht.